- Viktorianismus: Die »Victorian Sages«
- Viktorianismus: Die »Victorian Sages«In der langen Regierungszeit Queen Victorias veränderte sich das Gesicht Englands in einem bis dahin ungekannten Ausmaß. Unterstützt von Geldern aus den Kolonien - gegen Ende des Jahrhunderts betrachtete die britische Flagge ein Viertel der Welt als ihr Eigentum - herrschte eine Atmosphäre hektischer Betriebsamkeit, die sich in rapider Industrialisierung der Produktion, Bevölkerungskonzentration in den Städten und rasanten Kapitalanhäufungen und -verlusten in der Mittelklasse ebenso zeigte wie in politischen Reformen, welche den Männern der Mittelklasse das Wahlrecht zugestanden und die Repräsentation der Städte im Parlament verbesserten (1832), sowie in Aufständen der Chartisten gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen und für eine Ausweitung des Wahlrechts (1838). Der Eisenbahnbau schuf eine der Warenproduktion angepasste Infrastruktur und veränderte die englische Landschaft auf immer. Gleichzeitig verdreifachte sich die Bevölkerung in England. Neue Sozialtechnologien wie Arbeitsgesetze, Hygiene- und Bauvorschriften, Erziehungsprogramme und eine minimale, häufig missbrauchte Armenfürsorge (etwa in Form von Arbeitshäusern) versuchten, mit den Problemen fertig zu werden.Auch mentalitätshistorisch geriet die bekannte Welt aus den Fugen. Charles Darwins Behauptung, die Artenvielfalt sei das Ergebnis eines natürlichen Ausleseprozesses, entzog der Vorstellung des 18. Jahrhunderts, dass die Welt von Gott komplett mit ihrer Artenvielfalt und dem Menschen geschaffen und nur durch Katastrophen hin und wieder verändert worden sei, die Basis und führte zu einem Umsturz aller in der Religion verankerten Glaubenssätze und moralischen Forderungen, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart anhalten. Professionelle Denker, etwa ab 1820 als »Intellektuelle« bezeichnet, versuchten in dieser Zeit des Umbruchs Verhaltensnormen zu entwerfen, welche die verloren gegangene Absicherung moralisch-ethischer Forderungen in der Religion ersetzen könnten. Trotz großer Unterschiede zwischen den »Victorian Sages«, den »viktorianischen Weisen«, ist ihren kulturkritischen Überlegungen der Angriff auf ein weit verbreitetes nationalkulturelles Selbstbild gemeinsam, in dem die Engländer sich die ökonomische und imperialistische Überlegenheit Großbritanniens als Zeichen einer speziellen göttlichen Betreuung zugute hielten. Philosophisch und pseudo-naturwissenschaftlich gerechtfertigt durch Utilitarismus und Sozialdarwinismus, blieb in dieser anmaßenden Sicht kein Platz für das Elend der Proletarier sowie die moralische und spirituelle Krise der Zeit.Thomas Carlyle deutete die Missstände seiner Gesellschaft als Symptome einer allumfassenden Misere, die er in der Charakterisierung seiner Zeit als »Mechanical Age« oder »Age of Machinery« zusammenfasste. Nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch das Denken und Fühlen des Einzelnen funktionieren seiner Ansicht nach wie eine unmenschliche, leblos-einförmige, berechenbare und ausschließlich zweckorientierte Mechanik, in der die Beziehungen zwischen den Menschen nach den Prinzipien ökonomischer Gewinnmaximierung beurteilt werden. Carlyles hellsichtige Diagnose wird allerdings überschattet von seinem Therapievorschlag, von der Demokratie zu einer feudalistisch-paternalistischen Gesellschaftshierarchie zurückzukehren. Weil der Adel jedoch seiner gesellschaftlichen Führungsrolle nicht gerecht geworden sei, sieht Carlyle für diese Position einen untadeligen, autoritären Übermenschen vor.Auch John Ruskin wandte sich auf der Suche nach Orientierungsmaßstäben für die Beurteilung der Gegenwart der Vergangenheit zu. Er präsentiert die gotische Kunst des christlichen Mittelalters als das Ergebnis von Arbeitsbedingungen, die keine Entfremdungserscheinungen nach sich zogen, und als Resultat eines Menschenbildes, das den Menschen weder als allmächtigen Perfektionisten noch als Rädchen im ökonomischen Produktionsprozess der Gesellschaftsmaschine ansah. Sie ist für ihn zudem Ausdruck eines Kunstverständnisses, das sich von den klassischen Ästhetikprinzipien der Symmetrie und der geraden Linie bewusst abwandte, um in ihrer Wertschätzung der Unregelmäßigkeit das Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen ebenso zu bezeugen wie die Orientierung an der Natur. Ruskins Überlegungen führten zu einem Wiederaufleben der Gotik in der englischen Architektur und Kunst und beeinflussten sowohl die Präraffaeliten, mit deren Vertretern er eng befreundet war, als auch das Arts-and-Crafts-Movement.Der überzeugendste Denker des Viktorianismus war der Liberale John Stuart Mill. Von frühester Kindheit an rigoros nach den empiristisch-rationalitätsgeprägten Maximen des Utilitarismus erzogen, führte ihm ein in seiner Autobiographie (1873) eindrucksvoll geschilderter Nervenzusammenbruch die fatale Vernachlässigung seiner emotionalen Bedürfnisse vor Augen und ließ ihn die Notwendigkeit einer emotionalen Bildung durch die Kunst erkennen. Mill setzte sich essayistisch und politisch für die Frauenbewegung und für eine Ausweitung des Wahlrechts ein und analysierte die Gefahren, die in der Vermassung der Bevölkerung liegen. Er reagierte jedoch nicht wie Carlyle mit reaktionär-autoritären Gegenmodellen, sondern bestand auf der Wichtigkeit von Minderheitenmeinungen, um sich auf demokratischem Wege einer gesellschaftlich tragfähigen Wahrheit zu nähern.In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts übernahm Matthew Arnold die Rolle des Kulturkritikers. Bei ihm wird Kultur zum Inbegriff einer Einstellung, die ihre Wertmaßstäbe nicht aus dem Kosten-Nutzen-Rechnen der aufsteigenden Bourgeoisie bezieht, sondern die sich äußert als »ein innerer Zustand von Geist und des Gemüts, nicht in Form äußerer Umstände«. Auch bezeichnet er es als die Aufgabe des Literaturkritikers, dieses Bewusstsein in der Gesellschaft zu fördern durch sein »selbstloses Bemühen, das Beste, was auf der Welt gewusst und gedacht wird, zu lernen und zu verbreiten«. Über ein staatliches Schulsystem sollten die Maximen von einer intellektuellen Elite an das Bürgertum und das Proletariat weitergegeben werden, um sie zu mündigen Bürgern zu erziehen. Vielen viktorianischen Intellektuellen erschien wie Arnold, der seit 1851 Schulinspektor war und in dieser Funktion 1859 und 1865 die Bildungssysteme in Frankreich und Deutschland studierte, die Bildung der Massen als geeignetes Mittel, um die Arbeiterschaft von Protestaktionen gegen ihre ökonomische und politische Unterdrückung abzuhalten.Dr. Annegreth HoratschekEnglische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.Der englische soziale Roman im 19. Jahrhundert, herausgegeben von Konrad Gross. Darmstadt 1977.
Universal-Lexikon. 2012.